EINFÜHRUNG LE GOÛT DE LA TERRE

aus Katalog Nina Stoelting „Le goût de la terre“, 2003, Seite 7-10

Seit mehreren Jahren ist Wein das zentrale Thema der Bilder Nina Stoeltings.

Wein ist eine anspruchslose Pflanze, im Grunde wächst sie auf vielerlei Böden und wenn es nicht gar zu kalt wird, bringt sie wild Früchte hervor. In unserer westlichen Welt wird der Wein jedoch „kultiviert“. Warum passiert das gleiche nicht in Asien - und in der „neuen Welt“ Amerika (Nord- wie Süd-) und Australien erst seit christliche Siedler das Land bestellten? Was hat es mit dieser „Kulturpflanze“ auf sich?
Als vor circa 7000 Jahren erste Nomadenvölker im Mittelmeerraum seßhaft wurden, waren die Weinreben zusammen mit Oliven und Feigen die ersten Wildfrüchte, die domestiziert wurden. Seither ist Wein untrennbar mit unserer Zivilisation verbunden. Bei den Ägyptern, Griechen und Römern spielte er bereits eine bedeutende Rolle. Dionysos und Bacchus ließen den Traubensaft sprudeln, damit er dank seiner berauschenden Wirkung die Menschen von seinen alltäglichen Sorgen befreite. - Im Christentum bekam dann der Wein noch mehr Gewichtung. Zahlreich sind die Hinweise der Bibel, fundamental ist der Glaube an die Wandlung des Blutes Christi im Abendmahl.

Doch Nina Stoelting interessiert in diesem Kontext weniger der Glaubensaspekt als vielmehr der Einfluß der Religion auf die abendländische Kultur. Unsere Sitten, die Kunst, die Städte und auch die vom Weinbau geprägte Landschaft sind über Jahrhunderte tradiert. Im Falle der großen Weingegenden kann man kaum noch von Natur- sondern eben vielmehr von Kulturlandschaft sprechen. - Kultur ist einer der zentralen Werte, die das Rückgrat im Leben der Künstlerin bilden, die Wurzel, der sie sich verhaftet fühlt.

Nachdem sich die Künstlerin einige Zeit mit Düften beschäftigt hatte, entstand im Herbst 1998 ihr erstes Weinbild: „Blut Christi“, ein klassischer Triptychon, der in Farbe und Material - Gold und purpurfarbener Samt - eine große Nähe zur Sakralkunst nicht verheimlichen kann. Verstärkend wirkte das Trägermaterial Holz, das auf die Tradition des Tafelbildes verwies. In der darauf folgenden Werkgruppe der „Weinbilder“ befreite sie sich von dem strengen symbolischen Überbau und spürte dem sensorischen Erlebnis des Weingenusses nach. Es entstand eine Serie von mehrteiligen Bildern, die - durchaus nachvollziehbar - ausgewählte Weine (sowohl Rebsorten als auch spezielle Lagen und Jahrgänge) darstellen. Durch verschiedene Werkstoffe, Oberflächen und Farben erfolgte die malerische Umsetzung des Geschmackseindruckes. Synästhesie.

Da der Boden ein wesentlicher Faktor für den Geschmack des Weines ist, entstand die Idee, sich intensiver mit der Erdbeschaffenheit und Formation der Weinberge zu beschäftigen. Immer wieder zog es sie in den nahe gelegenen Rheingau und zahlreiche andere Weinbauregionen bis schließlich das Burgund zum Ziel wurde: Einerseits steht es für weltberühmte Weine, andererseits gilt es als nachmittelalterliche Wiege der abendländischer Kultur: Cluny und Cîteaux als Ausgangsorte der großen christlichen Wiederbelebung, die soviel mehr nach sich zog als Glaubenslehre und Bibelkunde.
War es Zufall, daß sich die Künstlerin 2001 in einem Château einmietete, das eine wichtige Station auf dem Pilgerweg nach Santiago di Compostella darstellt? - Gleich in den ersten Tagen ihres mehrmonatigen Aufenthaltes kehrten Pilger ein ... Auf- und anregende Gespräche ergaben sich, natürlich! bei einem (oder mehreren) Glas Wein.
Von diesem Standort aus suchte Nina Stoelting die unterschiedlichen Weinregionen des Großraumes Burgund auf. Von der Loire ausgehend, im Süden bis in das Beaujolais hinein, dann vom Kernstück des Burgunds, der Côte d´Or, bis zum Chablis hin spürte sie der Geologie der Grand Cru Lagen ebenso nach wie den Gesteinen der einfachen Weingärten. Fasziniert von der Vielfalt und Ausdrucksstärke der von Steinen - und nicht von Erde - dominierten Weinberge, eröffneten sich neue Perspektiven. Kaum größer könnte der Kontrast zwischen der paysage dorée des Beaujolais, den strahlend weißen Hängen in Sancerre und den ehrwürdigen Clos um Beaune ausfallen. Bei zahlreichen Verkostungen, Spaziergängen und Diskussionen mit den Winzern versuchte sie, dem Wesen der einzelnen Lagen auf die Spur zu kommen.

In jedem Gebiet sammelte die Künstlerin die Steine der Weinberge, die dann als Ausgangsmaterial für einen neuen, größtenteils in Frankreich entstandenen Bilderzyklus „Le goût de la terre“ dienten. Die zahlreichen, penibel beschrifteten Tüten mit Steinen bezeichnete Stoelting als das Herzstück ihres Ateliers, denn das authentische Material eines Weinberges bildete die Basis eines jeden Bildes. Mit einem schweren Hammer zerkleinert, dann meist in einem Mörser zermahlen, wurde das Material auf Acrylbasis gebunden und direkt auf große Holztafeln aufgebracht. Da der Stein beim Zerkleinern seine Farbe ändert - oder vielmehr verliert - mußte meist mit Pigmenten nachgeholfen werden, um den gewünschten Ausdruck zu erzielen. Seine wahre Farbpracht entfaltet der Stein nur, wenn er naß oder geschliffen ist.
Neben der unterschiedlichen Bodenbeschaffenheit floß außerdem die Charakteristik der spezifischen Anbauweise ein. Manche Wein„Berge“ waren beispielsweise so flach und in Reihen angeschüttet, daß sie eher die Anmutung eines Spargelfeldes besaßen, während andere an der Côte d´Or sehr oft von die Landschaft dominierenden, teilweise Jahrhunderte alten, schützenden Mauern umgeben waren.

Einige Monate später setzte die Künstlerin ihre Arbeit im Rheingau fort. Die Wurzeln des Weinbaus im Rheingau reichen zwar bis in römische Zeit zurück, aber die heutige Formation einzelner Lagen leitet sich ebenso wie im Burgund aus der Bewirtschaftung der Zisterzienser ab.

Insgesamt entstanden fünfzehn Arbeiten auf Holz, alle im gleichen Format. Das Gesamtmotiv ist sämtlichen Bildern gemein, jedoch lag die Aufgabe insbesondere in der Differenzierung. Der unwissende Betrachter glaubt mit abstrakten Bildern konfrontiert zu sein. - Doch das Gegenteil ist der Fall: Äußerst konkret sind Ausschnitte aus Weinbergen dargestellt. Frontale Aufsichten wechseln mit perspektivischen Fluchten, die das Lineare des Weinanbaus verdeutlichen und die Reihen beinahe endlos erscheinen lassen. Da es bei „Le goût de la terre“ um den Boden geht, ist für die Künstlerin geradezu selbstverständlich, daß die Wurzelstöcke und Reben nicht dargestellt sind.
Dazwischen gibt es auch freiere Arbeiten, die durch den Stein als solchen inspiriert wurden. Insbesondere wenn die Oberfläche durch Erde, Lehm oder Löß bedeckt war, zeugen diese Bilder von tieferen Schichten. Und obwohl solche für niemanden sichtbar sind, liegt gerade bei diesen Arbeiten die Assoziation zu Landschaften nahe.

Während Nina Stoelting in früheren Zyklen immer auf blockhafte Bildträger malte, die - auch an den Seiten bearbeitet - weit in den Raum griffen, über sich hinaus wiesen, begrenzt diesmal ein Rahmen das Bild. Konzeptionell folgerichtig verdeutlicht sie so noch einmal, daß es sich um Ausschnitte handelt. Wichtig war ihr dabei, daß das Material des Rahmens gleichfalls aus dem Boden kam: Naturbelassene Eisenprofile verstärken nun den archaischen Eindruck der Bilder. (Das Gewicht ist allerdings beachtlich.)

Ergänzt wird der Zyklus durch einige Skizzen. Tuschezeichnungen auf unterschiedlichsten Papieren, die die Vielzahl der verschiedenen Böden widerspiegeln. Leicht und beschwingt vermitteln sie die Frage nach der richtigen Perspektive, dem geeigneten Ausschnitt. Was die Schwere des Steins und des Bodens in den Holzarbeiten nicht zuläßt, erobert sich die Feder auf dem Papier.

Gemeinsam ist allen Bildern Nina Stoeltings die Suche nach einem inneren Zusammenhang der Dinge und Beziehungen. „Die Antwort auf die Frage nach der Wirklichkeit liegt in uns selbst. Was wir erkennen, hängt davon ab, welche Struktur uns zugrunde liegt.“, formulierte sie schon vor vielen Jahren. Die Sicht der Welt ist unsere eigene Schöpfung, behauptet sie. Mit der Sicht auf die Weinberge hat sie bewiesen, wie man was sehen kann. - Für den Betrachter steht alles offen.